Für Männer steigt das Risiko der Opferwerdung wenn sie das Haus verlassen, für Frauen hingegen wenn sie das Haus betreten - stimmt das?
1. Teil der dreiteiligen Viktimologie-Serie
Mit Opfern sind hier Opfer von Verbrechen gemeint. Das können einzelne Personen sein, Gruppen (im Zusammenhang mit Rassismus beispielsweise) , oder auch die gesamte Gesellschaft (bei Korription oder Umweltdelikte beispielsweise).
Es gibt aber auch "opferlose" Straftaten, zum Beispiel Delikte im Zusammenhang mit Drogen.
Direkte und indirekte Opfer
Direkte Opfer werden selber unmittelbar Opfer einer Straftat. Also wenn dir etwas gestohlen wird, bist du direkt Opfer geworden. Indirekte Opfer können zum Beispiel Familienmitglieder des direkten Opfers oder Zeugen der Tat sein. Richtet sich eine Tat gegen alle Angehörigen einer ethnischen Gruppe, sind alle Angehörige der Gruppe auch indirekt Opfer geworden.
Stufen der Viktimisierung
Ein Opfer kann bis zu vier Stufen durchleben.
Die erste Stufe ist die primäre Viktimisierung durch die Straftat selbst, beispielsweise durch eine Vergewaltigung.
Die zweite Stufe (sekundäre Viktimisierung) erfolgt durch das Umfeld und wie dieses auf die Tat reagiert. Etwa wenn das Opfer Anzeige erstattet und durch die Polizei nicht ernst genommen wird oder dem Opfer selbst die Schuld gegeben wird spricht man von sekundärer Viktimisierung. An dieser Stelle möchte ich gleich anmerken, dass das Opfer NIE selber Schuld an einer solchen Tat hat. Egal was es vorher gemacht hat.
Eine dritte Stufe (tertiäre Viktimisierung) ist erreicht, wenn das Opfer sich selbst nur mehr als Opfer wahrnimmt. Man kann die Opferrolle sozusagen erlernen, aber dazu später mehr.
Die letzte Stufe der Opferwerdung, oder quartäre Viktimisierung ist dann, wenn das Opfer-sein bewusst aufrechterhalten wird. Das kann zum Beispiel bei Entführungsopfern der Fall sein, wenn jedes Jahr wieder in den Nachrichten kommt, dass "ihre" Tat Jahrestag hat.
Opferwerdung - Theorien
Bestimmte Delikte sind in bestimmten Bevölkerungsgruppen weiter verbreitet als in anderen, ältere Leute werden Opfer von anderen Deliktsgruppen als junge, und so weiter. Es gibt verschiedene Theorien dazu, warum das so ist, Einige davon werden im Folgenden erklärt.
Theorie der erlernten Hilflosigkeit
Wie oben erwähnt, kann die Opferrolle erlernt werden. Dadurch wird man auch anfälliger für Opferwerdung. Diese Theorie ist vor allem eine Erklärung für wiederholte Opferwerdung, etwa durch Missbrauch. Zwar ist Missbrauch vielschichtig und individuell, trotzdem kann man feststellen, dass Personen, die als Kind schon häuslicher Gewalt ausgesetzt waren auch im Erwachsenenalter anfälliger für Gewalt in Beziehungen sind. Vielleicht hast du dich schon mal gefragt, warum es immer wieder die gleichen Personen sind, die in Gewaltbeziehungen feststecken. Ganz einfach gesagt: weil sie diese Opferrolle erlernt haben. Sie waren schon öfter in einer solchen Situation, haben gemerkt dass sie sich selbst nicht helfen können, und darum reagieren sie in einer neuen Situation ganz anders, wie jemand, der selber noch nie Opfer wurde.
Dazu hat man Experimente mit Hunden gemacht. Die Hunde wurden fixiert, man hat ihnen zuerst einen Ton vorgespielt und danach bekamen sie einen Stromstoß. Egal, ob die Hunde bellten oder nicht, sie konnten die Stärke nicht beeinflussen.
Im nächsten Teil des Experiments wurden die Hunde in einen Käfig gesetzt. Die Hälfte davon konnte elektrisch aufgeladen werden, die andere Hälfte nicht. Das heißt, die Hunde hätten einfach auf die andere Seite springen können, wo sie keine elektrischen Schläge bekommen hätten. Die Forscher machten den Ton wieder an, auf den die Schläge folgten. Jene Hunde, die den Stromstoß schon kannten, versuchten gar nicht auf die andere Seite zu springen, sie rollten sich am geladenen Boden zusammen. Die Hunde, die den ersten Teil des Experiments nicht mitgemacht hatten, sprangen einfach auf die andere Seite.
Das selbe ist es auch bei Menschen. Ein Vergewaltigungsopfer, dass sich während der Tat wehrt und der Täter dadurch noch brutaler wird, wird in der Folge diese nachteiligen Folgen vermeiden wollen und sich nicht mehr wehren. Das ist ein psychologisches Phänomen: jemand, der in einer traumatischen Situation war, die er nicht kontrollieren konnte, verliert die Motivation zum Handeln, wenn er sich wieder in einer traumatischen Situation befindet. Sie empfinden ihre Situation als ausweglos und sind sicher, dass ihr Verhalten daran nichts ändern kann.
Routinen- und Lebensstiltheorien
Hier kommt es darauf an, wie anfällig gewisse Lebensstile für bestimmte Taten sind.
Beispielsweise ist eine Kellnerin anfälliger für sexuelle Belästigung als ein älterer Versicherungsvertreter. Junge Männer haben ein größeres Risiko Opfer von Schlägereien zu werden als ältere Frauen. Das liegt daran, dass junge Männer durch ihren Lebensstil eher geneigt sind, auf einen möglichen Täter zu treffen. Der jeweilige Lebensstil beeinflusst die Wahrscheinlichkeit der Opferwerdung durch verschiedene Taten. Auch das ist aber keine allgemeingültige Erklärung, gegen diese Theorie spricht, dass das Risiko auch größer wird, wenn man sich ausnahmsweise außerhalb des gewohnten Umfelds bewegt, etwa wenn ein älteres Ehepaar ausnahmsweise ins Theater geht und auf dem Heimweg überfallen wird.
Sozialstrukturelle Theorie
Hier geht es um den Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und Kriminalität. In benachteiligten Wohngegenden ist das Risiko der Opferwerdung höher, das liegt an der ungleichen Verteilung von Bildung, Arbeit oder Einkommen zB, aber auch an der fehlenden Sozialkontrolle. Wird jemand auf offener Straße zusammengeschlagen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand die Polizei ruft oder überhaupt auf irgendeine Art eingreift höher in Gegenden, in denen solche Vorfälle nicht regelmäßig vorkommen.
Kriminalstatistik
Wie viele Opfer welcher Straftaten gibt es in Österreich?
Das ist schwierig zu sagen, weil in der offiziellen Statistik nur die auftauchen, die auch angezeigt wurden, das ist das Hellfeld. Wie groß dagegen das Dunkelfeld ist, oder die Dunkelziffer, wird durch Befragungen von Opfern, Tätern oder Umfragen in der Bevölkerung untersucht.
Insgesamt kann man sagen, dass nur ca die Hälfte der Straftaten angezeigt werden.
Von 2020 gibt es noch keinen Bericht, daher nehme ich jetzt die Zahlen von 2019. HIER findet ihr den ganzen Sicherheitsbericht, und HIER die polizeiliche Kriminalstatistik.
Insgesamt gab es 2019 fast eine halbe Million Anzeigen, davon wurde ziemlich genau die Hälfte aufgeklärt.
Fast die Hälfte davon machen die Eigentumsdelikte aus, also Diebstahl, Raub, Einbruch,...
Rund 20 % sind Gewaltdelikte, dazu zählen Morde, Körperverletzung, Sexualdelikte usw.
Ungefähr ein Drittel sind Drogendelikte und Wirtschaftsdelikte. Das ist also das Hellfeld.
Bei Gewaltdelikten ist die Dunkelziffer aber zwölf mal höher. Bei Eigentumsdelikten ist die Zahl nur doppelt so groß. Das heißt, die Anzeigebereitschaft bei Eigentumsdelikten ist relativ groß, das liegt erstens daran, dass Diebstahl, Raub und Einbruch weniger schambehaftet sind und zweitens zahlt die Versicherung nur, wenn es angezeigt wurde.
Bei Gewaltdelikten ist das anders. Zuerst muss nochmal differenziert werden, bei Sexualdelikten ist die Dunkelziffer zB zehn mal so hoch, bei Gewalt an Frauen im allgemeinen fünf mal so hoch. Das hat den Grund, dass die Opfer oft Angst vor den Folgen haben. Sie wollen nicht erzählen müssen, was ihnen passiert ist, sie kennen den Täter in den allermeisten Fällen und haben Angst vor den Folgen in der Familie, sie wollen nicht den Partner, den Onkel, den Vater, den Nachbar anzeigen, sie geben sich selber die Schuld, sie schämen sich, und so weiter.
Noch viel größer ist die Dunkelziffer bei Gewalt gegen Kinder.
Opferwerdung nach Altersgruppen und Geschlecht
Generell werden jüngere Menschen häufiger Opfer als ältere. Jüngere sind eher von Gewaltdelikten betroffen, Ältere eher von Einbruchsdiebstählen. In Städten ist die Kriminalität höher als auf dem Land, Personen mit höherer Bildung und höheren Einkommen sind häufiger betroffen als andere, und auch Alleinstehende werden öfter Opfer als Paare oder Familien.
Bei Delikten gegen Leib und Leben, das ist zB die Körperverletzung, Mord usw, sind Männer doppelt so oft Opfer. Bei den Sexualdelikten dagegen sind fast 90 % weiblich. Bei Freiheitsdelikten und Eigentumsdelikten ist das Verhältnis etwa gleich. Die meisten Opfer haben keine Beziehung zu ihren Tätern. Die Ausnahme sind Gewaltdelikte: diese sind meistens Beziehungstaten. Bei Sexualdelikten sagen sogar nur etwa 10 % der Opfer, dass sie den Täter NICHT gekannt haben.
Ganz grob kann man also schon sagen, dass bei Männern das Risiko Opfer zu werden steigt, wenn sie das Haus verlassen, bei Frauen dagegen steigt es, wenn sie ihr Haus betreten.
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